BW Story - Bernd Sautter
Am Mittelpunkt der Welt
Wie bitte? Ein Weltkulturerbe ganz ohne Trubel?? Kaum zu glauben, aber wahr. Obwohl wir im Mittelpunkt Europas stehen: auf der Insel Reichenau. Wir genießen die Idylle, die so angenehm überschaubar geblieben ist. Darum wollen wir uns konzentrieren. Keine elf Kilometern Inselrundgang bitte, nicht heute. Wir wollen in die Tiefen der Historie vorstoßen. Hier soll einst der Nabel der europäischen Welt gewesen sein! Wir stehen am Tor zur großen Religionsgeschichte. Mit großem Respekt tauchen wir ein.
Wir befinden uns im frühen Mittelalter, zwischen 800 und 1100 n. Chr. In dieser Zeit hatte die Reichenauer Benediktinerabtei im Heiligen Römischen Reich einen gewaltigen Einfluss, auf geistiger wie auf kultureller Ebene. Religion und Kultur waren damals kaum voneinander zu trennen. Die Reichenau war ein Mittelpunkt. Das behaupten nicht nur die lokalen Historiker, sondern die UNESCO. Damit ist es höchstamtlich bestätigt. Wir sind gespannt, was uns an diesem Originalschauplatz erwartet.
Auf der Insel Reichenau stehen heute noch drei bedeutende romanische Kirchen. Die Besichtigung ist beinahe obligatorisch. In jeder Kirche schlummern bedeutende Kunstschätze und mythische Reliquien. Faszinierend! Die Gemälde zählen zum feinsten, was Künstler im frühen Mittelalter schufen. Die Reichenauer Malschule gilt heute die renommierteste der gesamten Epoche. Seinen Ursprung hatte die Klosterinsel im Jahr 724. Benediktinermönch Pirmin lies sich nieder. Warum gerade hier? Das kann man heute noch nachvollziehen: geschützte Insellage, mildes Klima, fruchtbare Böden und paradiesische Umgebung. Übrigens: Die Pappelallee auf dem Damm, über die wir die Reichenau erreichten, wurde erst 1838 angelegt. Trotzdem bleiben wir gerne im frühen Mittelalter.

Die Klosteranlage Reichenau hatte im frühen Mittelalter einen großen Einfluss im Heiligen Römischen Reich.
| © TMBW RaatzNach dem Bestaunen der historischen Kirchen gehen wir auf eine kleine, aber feine Gartenschau. Nur ein Kräutergarten, könnte man einwenden. Aber was für einer: der älteste Kräutergärten Deutschlands. Die Reichenau gilt als Ursprung der Gartenkultur. Abt Walahfrid Strabo beschreibt in einem Lehrgedicht im Jahr 840. sein kleines grünes Reich. Der Geistliche gilt als Urvater aller Gärtnerinnen und -gärtner. Der Kräutergarten des Lehrmeisters wurde auf Basis des Originalgedichts nachgebaut. Also kein originaler Garten, aber maximal retro. Für uns ein Erlebnis – und ein Vorgeschmack aufs Abendessen.

Der Klostergarten der Insel Reichenau ist immer einen Besuch wert.
| © TMBW, RaatzVor einigen Jahren wurde der klösterliche Alltag auf der Insel wiederbelebt. Drei Benediktiner und zwei Schwestern sind auf die Reichenau gekommen. Sie leben in der kleinen Cella St. Benedikt. An einem Stundengebet dürfen wir teilnehmen, ganz nach alter Tradition. Danach vertreten wir uns kurz die Beine. Der Aussichtspunkt Hochwart in der Mitte der Insel bietet einen einzigartigen 360-Grad-Blick. Das Wetter passt. Der Turm ist übrigens kein Aussichtsturm für Gäste. Eher ein Wachturm. Wein und Gemüse sollten doch bitteschön von denen geerntet werden, die das auch angepflanzt haben. Wir passen heute nur auf eines auf: Wir wollen entspannt zum Abendessen erscheinen. Schnelle Schritte passen zu den ergreifenden Gesichtsstunden, die wir heute genießen durften. In Georg’s Fischerhütten sagen wir „Ahoi“ zum frischgefangen Saibling. Zuvor eine Reichenauer Gemüsesuppe, dazu ein trockener Grauburgunder vom lokalen Winzerverein. Während wir weiter spekulieren, wie man damals die Kräuter zubereitet hatte, freuen wir uns schon auf einen weiteren, bereichernden Klosterbesuch. Einige Tage später steht Salem auf unserem Programm.

Welch ein klösterliches Kontrastprogramm. Von der Reichenau kommend überspringen wir locker einige Jahrzehnte auf dem Zeitstrahl. Kloster und Schloss Salem stammen aus dem späten Mittelalter. Die imposante Anlage hat seit jeher einen deutlichen Hang zum Umbau. In Salem ist es zwar stets andächtig und ruhig. Aber die Zeit bleibt niemals stehen. Die letzte große Veränderung wird im 17. Jahrhundert notwendig. Ein fürchterlicher Brand zerstört weite Teile der Anlage. Der Wiederaufbau geht zügig. Vermutlich werden die angehäuften Reichtümer dafür eingesetzt. Entsprechend üppig fällt das Resultat aus. Die barocken Gepflogenheiten drücken der Anlage den Stempel auf. Der relative Wohstand der Zisterzienser quillt aus jeder Nische. Aber sie sind vorsichtig geworden. Pracht, Prunk und Brandschutz. Ein Feuerwehrmuseum zeigt heute noch, wie man sich damals gegen die Flammen schützte. Die Vorkehrungen in Bauweise und Gerät würde man heute „innovativ“ nennen.
Bleiben wir bei Prunk und Pracht. Die schönste Bodenseesonne steht am Himmel. Wir nutzen das wundervolle Licht zu einem ausgedehnten Spaziergang über die Anlage. Es geht nicht nur um den Park, sondern auch um Obst- und Weinbau, Getreideanbau, Forstwirtschaft und Fischfang. Die Zisterzienser hatten sich damals selbst um alles gekümmert. Ihr Credo: Sie leben von der eigenen Hände Arbeit. Respekt, die Herren Mönche. Auch die Parks sind mit Liebe angelegt. Wir entdecken sogar exotische Arten. Das Bodenseeklima macht’s möglich.
Das Münster gehört zu den Highlights unserer Tour. Ein riesiger Bau! Die Lust am Schönen ist erhalten geblieben. Die Bodenseesonne scheint herein. Alabaster, helle Farben und Gold bringen das Innere um Leuchten. Das gefällt auch den Putten. Für die kleinen Kinderfiguren ist das Münster berühmt. Die verspielten Sympathieträger sind überall zu finden. Hat sie eigentlich jemand gezählt, wie viele es sind? Haben sie Namen? Es gibt viele gute Gründe eine Führung zu mitzumachen. Salem macht neugierig.
Nicht vergessen: Wo eine reichhaltige Historie ist, findet sich stets eine reichhaltige Speisekarte. Zwei Häuser weiter biegen wir in den Markgräflich Badischen Gasthof Schwanen ein. Das Rehragout, ein Gedicht! Aber auch im fleischlosen Bereich hat die Küche köstliche Speisen auf der Karte. Dort finden wir eine feine Spur, die uns zurück an den Anfang bringt. Der Salat ist frisch von der Reichenau. Selbstverständlich.
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