Barockzeit in Oberschwaben
Reise auf der Oberschwäbischen Barockstraße
BW Story - Bernd Sautter
Kopfüber ins pralle Barock
Wo gibt’s denn sowas? Vor lauter Kirche verschwindet das Dorf. Von Steinhausen ist nicht viel zu sehen. Eigentlich nur eine riesige Kirche. Daneben sieht der Ort aus wie aus der Modelleisenbahn. Tatsächlich handelt es sich beim alles überragenden Bauwerk um keine typische Dorfkirche. Die Wallfahrtskirche wurde im 1733 fertig gestellt. Der Standort wurde mit Bedacht gewählt: genau am Pilgerweg nach Santiago de Compostela.
Wenn man so will, wird der Prunk für unsere frühen Vorfahren betrieben. Wir bewegen uns auf historisch gesichertem Terrain. Damals pilgerte die Leute, heute fahren sie in den Urlaub. Aus heutiger Sicht erscheint die Wallfahrtskirche überdimensioniert. Damals sah man das anders, mitten in der prallen Barockzeit.
Welch eine Epoche: Barock. Großartig, üppig, bunt und überbordend. Im Inneren der Wallfahrtskirche findet sich keine weiße Stelle. Alles bemalt. Jede Stelle verziert. Überall Figuren und Ornamente, Heilige und Engeln. Hier ein Kirchenfürst. Dort ein Märtyrer. Im trüben Eck ein Ungläubiger. Dunkle Nischen sind selten. Barock ist hell, am liebsten geflutet von der Sonne. Damit die Farben leuchten. Darf’s ein bißchen mehr sein? Willkommen im astreinen Barock. Sie stehen in seiner wunderbaren Mitte, dem Zentrum von Oberschwaben. Die Welt ist ein Dorf.
Bitte beachten Sie diesen freundlichen Reisehinweis. Er könnte gut und gerne aus dem 17. Jahrhundert stammen: „Wo eine Kirche ist, gehört der Besuch im gegenüberliegenden Wirtshaus zum guten Ton.“ Das Barock ist schließlich eine Gegenbewegung zur Reformation, dieser trockenen und nüchternen Angelegenheit. Der barocke Mensch weiß, wie kurz ein Leben sein kann. Logische Schlussfolgerung: Genieße jeden Tag. Am besten im Wirtshaus. Es ist eine heilige Pflicht, seine knappe Zeit bestmöglich auszunutzen. Katholisch und gottesfürchtig wie der Mensch nunmal ist: Pflicht ist Pflicht. Mit größtem Vergnügen!
Tatsächlich scheint Oberschwaben nur bedingt geeignet für freudlose Jahreszahlbesserwisser oder staubtrockene Epochenkennerinnen. Ins Barock zu reisen heißt, das pralle Leben in vollen Zügen zu genießen. Einmal über die Dorfstraße gegangen, stehen wir vor dem Gasthaus zur Linde. Nach alter barocker Sitte zögern wir keine Sekunde, es uns dort gemütlich zu machen. Wo man pilgert, reicht die Wirtshaustradition weit zurück, im Fall der Linde bis 1609. Küchenchef Bernd Heinzelmann hat bei den besten Küchenkräften der Welt gelernt. Gerne interpretiert er barocke Genüsse wie Bärlauch-Süppchen oder sogenannte Nonnenfürzle, ein herzhaftes Schmalzgebäck. Diese lebendige Geschichte kann sich schmecken lassen.
Beim Dessert stossen wir auf ein Luxusproblem. Als wir bemerken, dass das kleine Steinhausen nur eines von sage und schreibe 55 barocke Erlebnisstationen darstellt. Sie sind sämtlich auf der Oberschwäbischen Barockstraße aufgereiht. Insgesamt mehr als 800 Kilometer lang. Wie gut, dass es Abkürzungen gibt. Großartige Werke gibt’s in alle Himmelsrichtungen zu entdecken. Zum Beispiel: die Basilika in Weingarten (mit dem Traditionsgasthof Grüner Baum gegenüber), das Neue Schloss Tettnang (Brauereigasthof Zur Krone), den Bibliothekssaal im Kloster Wiblingen (Gasthof Löwen) und das Kloster Sießen mit seinem sagenhaften Klostergarten. Nicht zu vergessen, das Museumsdorf Kürnbach. Dort begreift man schnell, wie all der kulinarische Reichtum entstanden ist. Es ist ein offenes Geheimnis: Überall auf der Welt erweisen sich schlichte bäuerliche Traditionsküchen als die besten. Diese internationale Grundregel gilt spätestens seit dem Barock. Oberschwaben bestätigt die Regel.
Angesichts der unzähligen Ziele lassen wir keine Hektik zu. Bitte kein unbarockes Verhalten. Schließlich wäre die Epoche ohne ihre dunkle Seite nicht vollständig. Wo der Himmel offen ist, lauert am anderen Ende eine veritable Hölle. Ohne Hexenwahn, Pranger und Galgen wäre das barocke Bild unvollständig. Der Reliquienkult ist mehr als eine Fassade zu Halloween. In vielen Klosterkirchen werden Knochen von Heiligen aufbewahrt. Kostbar geschmückt. Wer etwas für „Dark Places“ übrig hat, findet im Oberschwäbischen eindrucksvolle Ziele.
Vertrödeln sollten wir uns allerdings nicht. Wir sind eingeladen. Die Gräfin legt Wert auf Pünktlichkeit. Sie mag es, wenn ihre Gäste zur vereinbarten Zeit eintreffen. Im Neuen Schloss Aulendorf sitzen wir mit Gräfin Paula zu Königsegg-Aulendorf und ihrer Zofe Rosalie beim Kaffeeklatsch. So geht Schlossführung heute. Etwas Theater darf sein. Üppige Inszenierungen passen in die Epoche wie der Stuck in den Marmorsaal.
Gekrönt wird der Tag in der Schlossbrauerei nur wenige Stufen vom Schloss entfernt. Es ist uns eine Herzensangelegenheit zu würdigen, was Schlossherren und Mönche einst perfektioniert hatten. Flo Angele hält die Braukunst hoch. Er setzt auf Klasse statt Masse. Angele erzeugt seine raren Spezialitäten seit 2014 im Schlosskeller. Die Sorten heißen Franziska, Pankraz oder Xaver. Ihr Genuss zwingt uns förmlich zur barocken Lebensweise. Damit steht fest: Heut geht nicht’s mehr. Morgen wieder. Angele sagt: „Barock ist Lifestyle“. Wie recht er damit hat. Zum Wohl!
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